Gendermedizin: Deshalb brauchen Frauen andere Medizin
Nicht nur im Berufsleben oder bei der unbezahlten Care-Arbeit gibt es ihn, den diskriminierenden Gender-Gap. Warum Gendermedizin Vorteile für beide Geschlechter bringt und welche Fortschritte es zu verzeichnen gibt, lesen Sie hier.
Univ.-Prof.in Dr. Alexandra Kautzky-Willer ist Fachärztin für Innere Medizin und Österreichs bekannteste Gendermedizinerin. Sie kämpft für eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Gesundheitssystem. Für ACTIVE BEAUTY hat Sie die wichtigsten Fragen zu Gendermedizin beantwortet.
Was ist Gendermedizin?
Wirken Medikamente bei Frauen anders als bei Männern? Äußern sich Krankheiten mit anderen Symptomen, abhängig vom Geschlecht? Kommunizieren Frauen und Männer auf unterschiedliche Weise mit medizinischem Personal? Fragen wie diese stellt sich die Gendermedizin. Sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz: Nicht nur die Biologie und die Gene, auch die gesellschaftliche Rolle und das erlernte Verhalten haben Einfluss auf Gesundheit und Krankheit eines Menschen.
Was ist der Gender Health Gap?
Der Begriff Gender Health Gap bezeichnet die Ungleichheiten von Männern und Frauen im Gesundheitssystem. Krankheiten verlaufen je nach Geschlecht unterschiedlich, der Fokus von Diagnose und Behandlungen bis zu Medikamentenstudien lag aber über Jahrhunderte auf der männlichen Gesundheit. Die Folge ist, dass Symptome von Frauen oft zu spät oder gar nicht erkannt werden. Alexandra Kautzky-Willer: „Wir wissen, dass Krankheiten und Beschwerden, die nur Frauen oder überwiegend Frauen betreffen, unzureichend erforscht sind und dass es nicht wirklich gute Behandlungsansätze gibt. Ich denke da an Endometriose, das Chronic-Fatigue-Syndrom oder auch an die Menopause, wo sehr viele leiden und nicht gut behandelt werden, weil es so viele Wissenslücken gibt. Auch verschiedene Autoimmunerkrankungen, Migräne und Schmerzsyndrome betreffen vorwiegend Frauen.“ Diese Dinge sind nicht tödlich, aber sie beeinträchtigen die Lebensqualität massiv und damit auch die Lebensfreude und die Leistungsfähigkeit.
Lange Zeit war der männliche Körper die Norm
Bei Gendermedizin handelt es sich um ein recht neues Feld in der Wissenschaft. Wie in vielen Lebensbereichen galt auch in der Medizin lange Zeit der Mann als Maßstab aller Dinge. Kein Wunder, denn in der Forschung dominierten die Männer. Frauen wurden von Studien ausgeschlossen – zu kompliziert war es, die hormonellen Schwankungen im Menstruationszyklus zu berücksichtigen, und zu groß war das Risiko, dass weibliche Versuchspersonen durch eine eintretende Schwangerschaft ausfallen könnten. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die mit männlichen Testpersonen erzielt wurden, wurden daher meist eins zu eins auf Frauen übertragen. Mit schwerwiegenden Folgen: Beispielsweise sind die Dosierempfehlungen für manche Medikamente bis heute zu hoch für Frauen. Nicht nur, weil sie meist kleiner und leichter sind als Männer – auch Stoffwechsel und Hormonhaushalt unterscheiden sich. Die Organe, insbesondere die Leber, arbeiten anders. Da Medikamente meist über die Leber abgebaut werden, leiden Frauen auch öfter unter Nebenwirkungen.
Alexandra Kautzky-Willer: „Es war und ist Usus, dass Medikamententests an Männern Mitte 30 mit 85 Kilo und 1,80 Körpergröße getestet werden. Das bedeutet für Frauen, dass Medikamente teilweise nicht so gut wirken, mehr Nebenwirkungen haben, dass die Langzeitergebnisse anders sind, dass Diagnosen überhaupt verzögert gestellt werden und Fehldiagnosen bei Frauen häufiger sind.“
Langsam findet ein Umdenken statt
Erste Arbeiten zur Gendermedizin wurden in den 1990er-Jahren veröffentlicht. Gerade in den letzten Jahren erlangte das Thema immer mehr Aufmerksamkeit. Auch im Bewusstsein der Patientinnen und Patienten ändert sich etwas: Nach einer Umfrage wünschen sich 87 Prozent, besser über geschlechtsspezifische Wirkungen von Medikamenten aufgeklärt zu werden. Nur ein Drittel hat eine solche ärztliche Beratung schon einmal erhalten.
Gendermedizin bringt Vorteile für beide Geschlechter
Ein weitverbreiteter Irrtum ist, dass Gendermedizin sich nur für die Interessen von Frauen stark mache. Tatsächlich ist es so, dass auch Männer davon profitieren, wenn sich die Medizin mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern befasst. Ein paar Beispiele gefällig?
Männer haben es oft verinnerlicht, dass sie nicht „wehleidig“ sein dürfen. Sie suchen viel seltener ärztliche Beratung und begeben sich weniger in Behandlung als Frauen und gehen seltener zu Vorsorgeuntersuchungen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis: Mitunter deshalb ist die Lebenserwartung von Frauen höher als die von Männern. Gesundheitskampagnen, die gezielt Männer ansprechen, können hier Veränderung bewirken.
Mittlerweile weiß man auch, dass Männer anfälliger für Krebs- und Viruserkrankungen sind als Frauen. Denn Frauen haben wegen der Östrogene ein stärkeres Immunsystem. Dafür leiden sie öfter an überschießenden Immunreaktionen wie Allergien oder Autoimmunerkrankungen.
Auch wenn es bei manchen Krankheiten einen gewissen Geschlechterüberhang gibt – von den Begriffen „Frauenkrankheit“ und „Männerkrankheit“ verabschiedet sich die Medizin so langsam. Denn sie verstellen oft den Blick auf die richtige Diagnose: So galt Osteoporose lange Zeit als Erkrankung, die nur Frauen nach den Wechseljahren betrifft. Doch auch mehr als 30 Prozent der Männer über 70 Jahre sind betroffen. Wissen Ärztinnen und Ärzte das, verstreicht weniger wertvolle Zeit bis zur richtigen Behandlung.
Neue Fortschritte in der Gendermedizin
An einer Impfung gegen Brustkrebs wird auf Hochtouren gearbeitet
Jede achte Frau in Österreich erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Was wir jetzt schon wissen: Vorsorge ist das Wichtigste, denn Früherkennung rettet Leben. Für die Zukunft gibt es noch mehr Hoffnung: Ein Forschungsteam der University of Washington School of Medicine hat erstmals erfolgreich eine Impfung gegen Brustkrebs am Menschen getestet. Schon in ein paar Jahren könnte die Impfung gegen Brustkrebs eingesetzt werden.
Zusatztipp: Erfahren Sie hier, wie Sie Ihre Brust abtasten.
Die HPV-Impfung ist endlich kostenlos
Jährlich erkranken 400 bis 500 Frauen in Österreich an Gebärmutterhalskrebs, in der EU ist er bei 15- bis 44-jährigen Frauen die zweithäufigste Krebserkrankung nach Brustkrebs. 90 Prozent der Fälle sind auf Humane Papillomaviren (HPV) zurückzuführen, die Übertragung passiert durch Haut-zu-Haut-Kontakt und Verhütungsmittel wie Kondome schützen nicht hundertprozentig vor der Ansteckung, verringern aber das Übertragungsrisiko. Vor allem bei Frauen verläuft die Erkrankung anfangs oft unbemerkt, kann zu Unfruchtbarkeit und ohne rechtzeitige Diagnose zum Tod führen. Bisher war die Impfung nicht Teil des österreichischen Impfprogramms. Seit Februar erhalten alle 9- bis 20-Jährigen die HPV-Impfung endlich gratis.
Das können Frauen tun, um mit Beschwerden ernst genommen zu werden
„Als Frau kann man in Wahrheit nur hartnäckig bleiben“, lautet der Tipp von Alexandra Kautzky-Willer, wenn es um Frauengesundheit geht. Frauen gehen öfter zur Vorsorge, sind interessierter an Gesundheitsthemen und leben auch gesünder. Trotzdem werden sie öfter falsch diagnostiziert, nicht ernst genommen und mit gesundheitlichen Problemen leider wieder weggeschickt. „Ich rate Frauen, sich nicht beirren zu lassen, auf ihr Gefühl zu hören und Beschwerden ernst zu nehmen.“ Meistens haben sie ein sehr gutes Gespür für ihren Körper, werden aber von außen verunsichert.