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Lärm: Wie wir mit einer immer lauteren Welt umgehen
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Lärm: Wie wir mit einer immer lauteren Welt umgehen

Wir Menschen produzieren täglich in irgendeiner Art und Weise Lärm. Zum Beispiel, wenn wir den Fernseher anmachen, durch unzählige Videos bei Social Media scrollen, die Tastentöne am Smartphone nicht leise stellen oder den Drucker im Großraumbüro bedienen. Wie störend solche Geräusche empfunden werden, ist individuell unterschiedlich. Und doch gibt es Laute, die die meisten belasten. Das zeigt eine Umfrage, die das deutsche Umweltbundesamt 2020 durchführte. Demnach fühlen sich zum Beispiel drei Viertel der Bevölkerung durch Straßenverkehrslärm belästigt und gestört.
Aber was ist eigentlich Lärm und ab wann spricht man davon? Ist es die Kreissäge des Nachbarn, der Verkehr auf der Bundesstraße nahe der Wohnsiedlung oder der Hund, der unentwegt bellt? Grundsätzlich wird jedes unerwünschte, laute Geräusch als Lärm wahrgenommen. Das Ohr nimmt es auf und verarbeitet die darin enthaltenen Informationen.

Wie der Körper auf Krach reagiert

Laute Geräusche, egal welche, können der Gesundheit einer und eines jeden schaden. „Wer meint, an Lärm würde man sich gewöhnen, liegt leider falsch“, sagt Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Uniklinik RWTH Aachen. Auch wenn man ihn nicht bewusst wahrnehme, so der Experte, beeinflusse Lärm bei Erwachsenen vor allem das Herz-Kreislauf-System und bei Kindern die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Deutlich hörbar, aber für die allermeisten unproblematisch sind zum Beispiel der Ventilator eines PCs oder eine tickende Uhr, die eine Lautstärke zwischen 20 und 40 Dezibel aufweisen. Laute Gespräche erreichen 60 bis 80 Dezibel, ähnlich wie ein Drucker oder ein vorbeifahrendes Auto, und bewegen sich damit schon im problematischen Bereich. Arbeitsgeräte wie Rasenmäher oder Bohrmaschine liegen im Bereich um 80 Dezibel – ein Krach, der schon zu gesundheitlichen Langzeitschäden führen kann. Und zwar, indem er Stressreaktionen auslöst, wodurch sich im Körper verstärkt Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol bilden. Die Folgen: Der Blutdruck steigt, die Herzfrequenz beschleunigt sich und die Blutgerinnung wird aktiviert.

Gegen ein hormonelles Durcheinander: Hormonyoga: So kommen wir wieder in Balance.

Geräuschverarbeitung: So funktioniert Hören

Geräusche und Töne sind Schwingungen, die als Schallwellen auf unser Ohr treffen und dort in akustische Reize umgewandelt werden. Im Innenohr befinden sich rund 15.000 Haarzellen. Treffen leise Töne auf die äußeren Haarzellen, verlängern sie sich, um die Töne besser an die inneren Haarzellen leiten zu können. Diese leiten das Geräusch über den Hörnerv direkt ans Gehirn. Zu starke Belastung drückt die Härchen nach unten. Sobald der Lärm vorbei ist, stellen sie sich wieder auf. Werden sie aber dauerhaft belastet, fehlt die regelmäßige Durchblutung, sodass die Härchen abknicken oder absterben können. Lautstärke wird in Dezibel (dB), einer Einheit zur Messung von Schallintensität, angegeben. Bis zu 50 dB ist für das Gehör in der Regel alles in Ordnung, das Surren eines Kühlschranks bringt es zum Beispiel auf 30 dB. Die von der WHO definierte Lärmverschmutzung beginnt bei 60 bis 80 dB, das entspricht der Lautstärke in einem Großraumbüro. In so einem Umfeld lebt jeder fünfte Mensch in Europa. Die menschliche Schmerzgrenze liegt bei 130 dB. Kindergeschrei liegt bei 120 dB und ist damit vergleichbar mit der Lautstärke eines 100 Meter entfernten Düsenjets. Die Dezibel sind aber nicht immer entscheidend. Denn ein tosender Wasserfall kann genauso laut sein wie Straßenverkehr. Trotzdem empfinden wir das eine als beruhigend und das andere als störend.

Warum Lärm nicht auf alle gleich wirkt

Das bestätigt auch Psychologin Dr. Irene van Kamp. Sie forscht am Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt der Niederlande in Bilthoven seit vielen Jahren zum Thema Lärmentwicklung. Sie fand zum Beispiel heraus, dass Kinder, die in der Nähe eines Flughafens wohnen, ein höheres Risiko von Konzentrations- oder Schlafstörungen aufweisen. Grundsätzlich sei es schwierig, sagt sie, den genauen Einfluss von Lärm auf Menschen darzustellen. Fördergelder für die Forschungen sind rar, weil Lärm nicht immer als Gesundheitsproblem anerkannt wird. Denn wie belastend Lärm wirklich ist, habe viel mit persönlicher Wahrnehmung zu tun.

Deshalb sei es so schwer, das Thema greifbar und allgemeingültig für alle darzustellen. Mit der Folge, dass empfindlichen Menschen oft einfach gesagt wird, dass sie sich nicht so anstellen sollten oder dass die monierte Lärmbelästigung doch gar nicht so schlimm sei.

Wie die Moderne die Natur übertönt

Seit jeher sind Menschen Geräuschen ausgesetzt. Im Mittelalter war Lärm ein Mittel zur Machtdemonstration. In Kriegen und Schlachten machten Menschen mit Trompeten, Waffen und lautem Gebrüll auf sich aufmerksam. Am lautesten war damals aber die Natur, gut zwei Drittel der Geräusche stammten von ihr. Nur fünf Prozent des Lärms wurde von Werkzeugen und Maschinen erzeugt, die übrigen 26 Prozent gingen direkt auf Menschen zurück. Mit der Dampfmaschine begann im 18. Jahrhundert die Industrialisierung. Damit veränderte sich der Lärm. Die Sirenen von Fabriken und Maschinen oder das Pfeifen der Eisenbahn gehörten fortan zum Alltag und übertönten mancherorts die bisherigen Lärmquellen.

Im Beitrag über Waldbaden haben wir Tipps, wie Sie die Natur und ihre Geräusche genießen können.

Genau dieses Fingertrommeln ...

Menschen, die von Misophonie betroffen sind, machen nicht Dezibel, sondern spezifische Geräusche zu schaffen.
Diese Geräusche empfinden sie als unerträglich. Der Begriff Misophonie setzt sich aus den griechischen Wörtern „misos“, was Hass bedeutet, und „phonē“, dem Wort für Geräusch zusammen. Lautes Atmen, Fingertrommeln oder Schmatzen lösen bei Betroffenen so starke Aggressionen, Beklemmungen und manchmal auch Ekel aus, dass sie sich abrupt zurückziehen oder sich mit geräuschunterdrückenden Kopfhörern schützen müssen. Bei manchen geht es sogar so weit, dass sie sich schmerzhaft in den Arm beißen, nur um sich von der Geräuschkulisse abzulenken. Laut verschiedenen Studien an Universitäten in Großbritannien, den USA und Deutschland fühlen sich zwischen fünf und 18 Prozent der Menschen im Alltag durch solche Situationen stark befangen und hilflos. Die Lautstärke ist für Betroffene eher nebensächlich, störend ist das Geräusch selbst. Hat es die Person einmal im Ohr, bleibt es dort. Jede Misophonikerin und jeder Misophoniker besitzt ein unterschiedliches Repertoire an störenden Geräuschen, die sogenannten Trigger.

Man vermutet, dass Misophonie durch Konditionierung entsteht. Dabei verknüpft das Unterbewusstsein eine körperliche Anspannung, die durch Stress ausgelöst wird, mit einem davon unabhängigen Geräusch. Das ist eigentlich immer Zufall, hat aber eine nachhaltige Wirkung auf betroffene Personen. Denn sie nehmen den Stress und das Geräusch gleichzeitig wahr und bringen beides miteinander in Verbindung. Hören sie künftig „ihr“ triggerndes Geräusch, reagiert der Körper mit einem Reflex, den das Gehirn als Angriff von außen interpretiert. Das führt im Extremfall sogar dazu, dass sich Menschen von Schmatzgeräuschen anderer übergeben müssen.

Weshalb Martinshörner immer lauter werden

Ab Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man dank Radio, Telefon und Lautsprecher Geräusche über weite Distanzen verbreiten. Während Hufgeklapper seltener wurde, kamen weitere neue Geräusche hinzu: Autos, Busse, Züge, Trams, U-Bahnen, Flugzeuge, Motorräder – die Liste der Geräuschquellen im Nah- und Fernverkehr ist mittlerweile lang. Messungen zufolge erhöht sich der Geräuschpegel in der Umgebung jährlich um ein halbes bis ganzes Dezibel. Ein Beispiel dafür ist das Martinshorn von Feuerwehr oder Rettung. Heute ist es mindestens 40 Dezibel lauter als noch vor 100 Jahren. Das liegt daran, dass solche Warnsignale präsenter sein müssen als alle anderen Lärmquellen, damit sie überhaupt auffallen.
In der Forschung wird übrigens zwischen drei Arten von Lärm unterschieden: Beim sogenannten kontinuierlichen Lärm bleiben Lautstärke und Tonhöhe über eine längere Zeit konstant, zum Beispiel bei einem Laubbläser. Ist man dem zu lange ausgesetzt, kann dies das Gehör nachhaltig schädigen. Beim intermittierenden Lärm steigt der Schallpegel schnell auf und ab – etwa beim Wecker, der als stressig oder störend empfunden wird. Beim Impulslärm handelt es sich um ein lautes Ereignis, wie bei einer Explosion oder einem Schuss. Er belastet das Gehör durch die extreme Lautstärke mehr als kontinuierlicher Lärm.

Wie unsere Umwelt wieder leiser werden könnte

In der Praxis kennen alle Menschen diese drei Arten von Lärm, doch jede und jeder nimmt sie als unterschiedlich störend wahr. Auch kulturell zeigen sich Unterschiede beim Lärmempfinden. In katholischen Gottesdiensten in Österreich sitzen die Gläubigen möglichst still in ihren Reihen und lauschen der Predigt. Im buddhistischen Kloster schweigen sie gar durchwegs. Besucht man allerdings katholische Messen in Afrika, sieht man dort Menschen, die lachen und zur Musik tanzen, singen und trommeln. Ruhe wäre hier eher ein Zeichen für Trauer oder Schüchternheit.

Geräuschen aus dem Weg zu gehen, ist im Alltag nicht einfach. Umso besser, dass es Projekte gibt, die Stille fördern und jenen entgegenkommen, die Lärm stresst. So reagierte zum Beispiel die Filialleiterin eines Supermarktes in Neuseeland auf den Impuls eines ihrer Mitarbeiter: Sein autistisches Kind litt jedes Mal unter der akustischen Reizüberflutung beim Einkaufen. Also wurden Hintergrundgedudel und Werbedurchsagen in einer bestimmten Zeitspanne gestoppt, das Piepen der Scanner leiser gedreht – und schon war ein entspanntes Einkaufen möglich. Die Idee, die bereits Kaufleute in aller Welt inspiriert hat, heißt „Silent Shopping“. Klingt doch gut.

Kommentar: Einfach mal runterdrehen!

Die Forschung sagt klar, dass Menschen individuell festlegen, welche Geräusche und welche Lautstärke sie als störend empfinden. Auch der Zeitpunkt, wann ein Geräusch auftritt, kann entscheidend sein. Baustellenlärm stört uns an manchen Tagen mehr als an anderen. Oder wir tanzen zu lauter Musik in der Diskothek, verteufeln diese aber, wenn die benachbarte WG sie in ähnlicher Lautstärke auf ihrer Hausparty spielt. Lärm stört uns offensichtlich weniger, wenn wir ihn selbst verursachen oder gezielt auf uns nehmen, und mehr, wenn wir ihn nicht selbst abschalten können. So ist es weniger schlimm, wenn wir den Laubbläser bedienen und nicht der Trupp von der Stadtgärtnerei. Oder wenn wir uns im Zug ohne Kopfhörer laut Videos am Smartphone ansehen und nicht die Person, die hinter uns sitzt.
Ich empfehle daher einen Selbsttest. Achten Sie im Alltag bewusst darauf, wann Sie Lärm verursachen: Vielleicht ist es das penetrante Geräusch Ihres Smartphone-Klingeltons, das in der U-Bahn läutet. Oder Ihr Pfeifen, wenn Sie am Morgen durch die Innenstadt gehen. Möglicherweise können sich auch Menschen im Wellnessbereich nicht entspannen, wenn Sie sich mit anderen lautstark unterhalten? Geräusche, die uns selbst oft nicht stören, können bei anderen Stress hervorrufen. Sie werden staunen, wie viel Sie selbst zu einer ruhigeren Umwelt beitragen könnten.

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