Wie verändert die KI unsere Arbeit? Interview mit der KI-Expertin Mina Saidze
Mina Saidze, international gefragte Expertin für Künstliche Intelligenz, will, dass es in der Arbeitswelt der Zukunft gerecht und menschlich zugeht. Hier erzählt sie, was es dazu braucht.
Inhaltsverzeichnis
- Ist Künstliche Intelligenz ungerecht?
- Große Firmen nutzen in ihren Personalabteilungen zum Beispiel KI-Tools, die weltweit im Unternehmen nach passenden Kandidaten für eine Stelle suchen. Der Vorteil sei, heißt es, dass der Algorithmus eine diversere Auswahl treffe und Jobs – auch mit mehr Frauen – gerechter besetzt würden. Stimmen Sie dem zu?
- Also zementiert der Algorithmus Benachteiligung?
- Gibt es Beispiele, die zeigen, dass es besser geht?
- Aber das sind noch eher die Ausnahmen?
- Das ist jetzt die Mission Ihrer Beratungsorganisation Inclusive Tech, der europaweit ersten für KI-Ethik und Diversität in der Tech-Industrie. Wie kam es zur Gründung?
- Sie beschlossen also, die Aufklärung zu Ihrem Beruf zu machen?
- Viele Berufe werden wegfallen, sich ändern – aber viele auch neu entstehen. Könnte das eine Chance für Frauen in der IT sein?
- Sie sind selbst Quereinsteigerin, wie haben Sie es geschafft?
- Sie haben sich dann selbst das Programmieren beigebracht …
- KI: Einfach mal ausprobieren!
- Über die KI-Expertin Mina Saidze
Sie kann die Steuererklärung erledigen, auf Anweisung einen hübschen Werbefilm kreieren oder sogar Leben retten, wenn sie in der Notaufnahme bei einer schnellen, genaueren Diagnose hilft: Künstliche Intelligenz(KI) bietet der Menschheit viele Chancen. Etwa indem sie uns ungeliebte oder monotone Aufgaben abnimmt oder in wenigen Sekunden einen Text ins Englische übersetzt. Allerdings drohen auch Nachteile. Immer wieder berichten die Medien über geplante Entlassungen, vom Steuergehilfen bis zu Ingenieurin – alle kann es treffen. Die Tech-Expertin Mina Saidze berät mit ihrer Firma Inclusive Tech Organisationen und Unternehmen zu KI-Ethik und Diversität. Die 31-Jährige möchte, dass der Wandel menschenfreundlich und gerecht gestaltet wird, vor allem Frauenrechte sind ihr dabei ein Anliegen.
Ist Künstliche Intelligenz ungerecht?
KI ist per se weder gerecht noch ungerecht, sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Technologie ist niemals neutral, da sie von Menschen geschaffen wird. Wir sind dafür verantwortlich, welche Werte sie hat. Und wir müssen bei uns selbst anfangen, uns mit unseren Vorurteilen und unserer Voreingenommenheit auseinandersetzen. Sonst kann KI diskriminierende Auswirkungen haben.
Große Firmen nutzen in ihren Personalabteilungen zum Beispiel KI-Tools, die weltweit im Unternehmen nach passenden Kandidaten für eine Stelle suchen. Der Vorteil sei, heißt es, dass der Algorithmus eine diversere Auswahl treffe und Jobs – auch mit mehr Frauen – gerechter besetzt würden. Stimmen Sie dem zu?
Ich sehe das differenzierter. Am Ende ist es ein zweischneidiges Schwert. Wir haben weit mehr als einen Fall gesehen, bei dem ein großes Tech-Unternehmen intern eine KI-assistierte Recruiting-Software eingeführt hatte, die dann männliche Bewerber gegenüber weiblichen eindeutig bevorzugte. Das System war mit historischen Trainingsdaten angelernt worden, und in der Vergangenheit waren eben überproportional häufig Männer für diese Positionen eingestellt worden.
Also zementiert der Algorithmus Benachteiligung?
Wenn Recruiting-Software so programmiert ist, dass sie inklusiv, ethisch, verantwortungsbewusst und transparent ist, kann sie helfen, bessere Personalentscheidungen zu treffen. Aber in der Praxis trifft das selten zu, und das hat damit zu tun, dass KI-Ethik als Luxusthema betrachtet wird. Es gibt gerade so etwas wie ein Wettrüsten rund um generative KI. Dabei geht es primär darum, Profit zu maximieren, also etwa als erster mit der Innovation auf dem Markt zu sein oder Prozesse zu automatisieren.
Gibt es Beispiele, die zeigen, dass es besser geht?
Die gibt es, so hat der Schweizer Verlag Ringier im Rahmen seiner „EqualVoice“-Initiative ein Feature in sein Content-Management-System integriert: Die Redakteurinnen und Redakteure bekommen damit zum Beispiel schon beim Verfassen eines Artikels angezeigt, wie viel Prozent der zitierten Experten Frauen sind. Weibliche Stimmen sind immer noch viel zu wenig in der Öffentlichkeit repräsentiert. KI kann hier für mehr Gerechtigkeit sorgen, wenn sie einfach mitzählt und bewusst macht, wie die Verteilung aussieht. Journalisten können dann benachteiligte Menschengruppen besser berücksichtigen. Es gibt einige solcher positiver Beispiele.
Wenn Sie mehr über innovative Ideen lesen wollen, sehen Sie sich den Beitrag „Veganes Leder: Das können die Materialien der Zukunft“ an.
Aber das sind noch eher die Ausnahmen?
Grundsätzlich müsste Ethik eine wichtigere Rolle spielen. Wir müssen viel öfter andere Fragen als nur die nach der Wirtschaftlichkeit stellen: Wie viele Menschenleben können wir mithilfe dieser Technologie verbessern oder sogar retten? Wie können wir dafür sorgen, dass alle von der Digitalisierung profitieren, und zwar als mündige Bürgerinnen und Bürger? Wie kann die Arbeitswelt diverser und fairer werden?
Das ist jetzt die Mission Ihrer Beratungsorganisation Inclusive Tech, der europaweit ersten für KI-Ethik und Diversität in der Tech-Industrie. Wie kam es zur Gründung?
Im ersten Lockdown während der Corona-Pandemie hatte ich Zeit, mir grundlegende Fragen zu stellen. Wofür möchte ich stehen? Ich stellte fest, dass ich mich bei meiner Arbeit in Tech-Teams stets wie ein Ausreißer im Datensatz gefühlt habe, ob im Büro, im Meeting oder auf Konferenzen: Meist war ich die einzige Frau und Person of Color. In Österreich oder Deutschland etwa gibt es nur ca. 19 Prozent Frauen in IT-Berufen, in Europa sind es 23 Prozent. Und ich möchte nicht in einer Welt leben, die von Männern für Männer geschaffen wird. Ich möchte eine Zukunft, in der Technologie von allen gleich gestaltet wird. Denn KI wird unsere Zukunft bestimmen, wir sind schon jetzt tagtäglich damit konfrontiert. Wenn ich etwa mein Handy in die Hand nehme und mir die News-Feeds anschaue, mir Artikel vorgeschlagen werden, mir Menschen in einer Dating-App angezeigt werden oder Produktempfehlungen bei Online-Bestellungen: Das alles hat etwas mit KI zu tun.
Sie beschlossen also, die Aufklärung zu Ihrem Beruf zu machen?
Wir beraten unterschiedliche Organisationen, von Vereinen über Stiftungen bis zu Unternehmen. Wir richten uns auch an Politik und Medien. Meist werden ja politisch ein paar kleine Förderprogramme für Frauen in den MINT-Berufen initiiert. Aber das reicht nicht. Wir müssen unbedingt europaweit eine digitale Bildungsreform anstreben; das bedeutet etwa, dass es ab der dritten Klasse ein Schulfach wie Datenkunde gibt. An den Universitäten brauchen wir Pflichtmodule in KI-Ethik und Datenanalyse, um die ganzen nächsten Generationen für den digitalen Arbeitsmarkt auszubilden. Und wir müssen Menschen qualifizieren, ihrem Beruf weiter nachgehen zu können oder ein neues Arbeitsfeld zu finden.
Viele Berufe werden wegfallen, sich ändern – aber viele auch neu entstehen. Könnte das eine Chance für Frauen in der IT sein?
Ja, ich sehe viele Chancen für Frauen, auch aufgrund meiner persönlichen Biografie. Mir hat die IT-Branche soziale Mobilität, gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe ermöglicht. Ich möchte, dass dieses Privileg mehr Menschen in Europa erhalten. Ich habe selbst erlebt, dass es in der IT-Branche egal ist, ob und was ich studiert habe. Vielmehr kommt es auf meine Fähigkeiten an. Das heißt nicht, dass jetzt alle das Programmieren lernen müssen, sondern man kann auch in Schnittstellenfunktion tätig sein. Wenn man grundlegendes technologisches Verständnis mitbringt, kann man in geschäftsorientierten Positionen arbeiten, etwa in der Kommunikation oder im Stakeholder-Management. Mit Empathie und Organisationstalent haben Frauen Kompetenzen, die gerade gesucht werden. Zudem bietet die Tech-Industrie tolle Konditionen an, Frauen können in Teilzeit arbeiten, ortsungebunden, und ein Quereinstieg ist immer möglich.
Sie sind selbst Quereinsteigerin, wie haben Sie es geschafft?
Ich habe Volkswirtschaftslehre studiert. Um 2015 herum habe ich in Berlin mitbekommen, dass ein Start-up nach dem anderen aufgebaut wurde. Ich erkannte: Die Digitalisierung ist nicht nur ein Trend, sondern eine langfristige Entwicklung, die uns noch sehr beschäftigen wird. Und Macht kommt von Machen. Also habe ich beschlossen, ins Machen zu gehen. Zu dieser Zeit war ich in den Medien in einer Schublade gelandet: Migration und Integrationspolitik, schreib da mal drüber. Obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, Deutsch meine Muttersprache ist! Ich hatte da keine Lust drauf, ich hätte mich lieber mit Verteidigungspolitik oder Digitalisierung beschäftigt. Aber diese Themen haben immer Männer besetzt.
Sie haben sich dann selbst das Programmieren beigebracht …
... und mich auf Big Data Analytics spezialisiert. Heute lehre ich das an Universitäten. Nur mit viel Disziplin, Eigeninitiative und auch Resilienz über lange Jahre hinweg wurde ich zu einer anerkannten Expertin. Ich habe IT-Kurse absolviert, um eine fachliche Grundlage zu erhalten, habe Gastvorlesungen in Informatik an der Technischen Universität Berlin besucht und habe neben der ganzen Theorie mit Büchern, Online-Kursen und Uni-Vorlesungen praktische Erfahrung in der IT-Industrie gesammelt. Für mich war dann der Quereinstieg in die Datenanalyse und Datenwissenschaft in der Privatwirtschaft ein Befreiungsschlag – mein Alter, Geschlecht oder Herkunft spielten keine Rolle mehr. Es wurde endlich nur darauf geschaut: Was kann sie?
KI: Einfach mal ausprobieren!
Künstliche Intelligenz nutzen wir alle schon länger. Wenn wir Siri oder Alexa um ein Rezept bitten, steckt ein Spracherkennungsprogramm dahinter; und wenn wir bei Firefox nach einem Hotel in Griechenland fragen, durchsucht der Algorithmus das Netz. Aber KI kann uns im Alltag noch viel mehr helfen, man muss es nur einmal ausprobieren. Viel Wirbel gibt es derzeit um sogenannte generative KI mit Tools wie ChatGPT oder Google Gemini. Diese können zum Beispiel Programme coden oder Websites kreieren. Mit den richtigen Informationen gefüttert, kann ChatGPT in Sekundenschnelle eine Einladungskarte für das runde Geburtstagsfest gestalten oder eine Rede zum Betriebsjubiläum schreiben. Zumindest hat man damit schon mal einen schönen Entwurf, den man noch selbst bearbeiten und vielleicht gefühlvoller gestalten kann. Denn Empathie hat KI nicht. Übersetzungstools wie DeepL oder translate.google können alle Sprachen, aber nicht alle gleich gut. Am besten funktioniert derzeit Englisch, wahrscheinlich wegen der längeren Trainingszeit. Doch immer gilt: Das Ergebnis sollte vom Menschen noch genau überprüft werden, denn auch Künstliche Intelligenz macht Fehler.
Über die KI-Expertin Mina Saidze
In Deutschland geboren, wurde die Tochter aus Afghanistan geflüchteter Eltern die Erste in der Familie, die studierte. Als Volkswirtin arbeitete sie zuerst als Journalistin; heute ist die 31-Jährige eine mehrfach ausgezeichnete KI-Expertin, Autorin und Gründerin. Schwerpunkte der Quereinsteigerin in der Tech-Branche: vorurteilsfreie Algorithmen und inklusive Technologien, damit alle Menschen vom digitalen Fortschritt profitieren. Vor allem die Gleichberechtigung von Frauen ist ihr ein Anliegen. 2020 gründete sie Inclusive Tech als europaweit erste Lobby- und Beratungsorganisation für KI-Ethik und Diversität in Tech. Zu den Kunden zählen renommierte Unternehmen wie Intel, Yelp oder IBM und gemeinnützige Organisationen wie die Körber- oder Heinrich-Böll-Stiftung. Als Keynote-Speakerin war Mina Saidze u.a. auf dem Forbes Women Summit und bei Google. Im Herbst 2023 erschien ihr Buch „FairTech: Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft“