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Orgasm Gap: So geht Gleichberechtigung beim Sex laut Expertin
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Sexual Wellness

Orgasm Gap: So geht Gleichberechtigung beim Sex laut Expertin

Orgasm Gap: Warum Frauen oft schwerer zum Orgasmus kommen als Männer und wie sich die weibliche Lust fördern lässt, hat ACTIVE BEAUTY bei der Psychotherapeutin und Sexualtherapeutin Bettina Brückelmayer nachgefragt.

Was ist der Orgasm Gap und woher kommt er?

Orgasm Gap heißt, dass Frauen beim Sex weitaus seltener einen Orgasmus haben als Männer. In der Wissenschaft spricht man auch vom „Gender Orgasm Gap“, der in mehreren Studien nachgewiesen ist. So kommen laut einer umfangreichen Studie der Chapman University im kalifornischen Orange aus dem Jahr 2017 95 Prozent der Männer regelmäßig zum Höhepunkt, während es bei den Frauen nur 65 Prozent sind. Wie kann das sein?

Mögliche Gründe für den Orgasm Gap und praktische Tipps

1. Orgasm Gap: Befriedigung des Mannes geht vor


Noch immer entsteht gesellschaftlich oftmals der Eindruck, dass die Befriedigung des Mannes beim Sex Vorrang habe, zum Beispiel durch Pornos. Das kann sich bis ins eigene Schlafzimmer auswirken – dann liegt der Fokus auf dem Höhepunkt des Mannes. Was können Sie ganz persönlich tun, um für mehr Gleichberechtigung im Bett zu sorgen?

Die Expertin rät: Die eigene Befriedigung sollte ebenso wichtig sein wie jene des Gegenübers, nur so entsteht partnerschaftlicher, respektvoller Sex. Um Ihre sexuellen Bedürfnisse besser kennenzulernen, erlauben Sie sich als ersten Schritt, Ihr Verlangen nach Sexualität bewusst wahrzunehmen und sich etwas Gutes zu tun – etwa mit Selbstbefriedigung. Achten Sie auch beim Sex in der Partnerschaft bewusst mehr und mehr darauf, dass Ihre eigenen Bedürfnisse ausreichend erfüllt werden. Sprechen Sie an, wenn es nicht so ist. Das mag anfangs sehr schwerfallen, wird aber leichter, wenn Sie merken, dass es klappt. Tipps zur intimen Gesprächsführung gibt die Expertin weiter unten.

2. Orgasm Gap: Weibliche Scham vor Masturbation als Grund

Ein weiterer möglicher Grund für den Orgasm Gap: Während Selbstbefriedigung bei Männern als etwas Normales gilt, war sie bei Frauen lange Zeit ein Tabuthema. Auch wenn sich das nach und nach ändert: Manche Frauen scheuen sich immer noch, mit sich selbst intim zu werden. Das führt dazu, dass sie ihre erogenen Zonen und sexuellen Bedürfnisse vielleicht weniger gut kennen, als Männer das tun.

Was hilft? „Entdecken Sie sich selbst, experimentieren Sie mit ihrem Körper und gönnen Sie sich das Lustgefühl, sich selbst zu befriedigen“, rät die Sexualtherapeutin. Die eigene Orgasmusfähigkeit lässt sich sogar trainieren. „Durch Selbstbefriedigung werden neuronale Verbindungen im Gehirn aufgebaut, die Lust zulassen, was zum Orgasmus führen kann.“ Sextoys zu verwenden – mit oder ohne Partner*in – kann bei der lustvollen Entdeckung des eignen Körpers unterstützen.

3. Konzentration auf die vaginale Befriedigung führt zu Orgasm-Gap

Frauen werden beim Sex oft vaginal stimuliert, was für viele durchaus befriedigend sein kann. „Der Weg zum weiblichen Orgasmus führt aber eher über die Klitoris“, erklärt die Sexualtherapeutin – wobei das Thema seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird. Das Bewusstsein für den klitoralen Orgasmus der Frau fehlt jedoch oft und könnte ein Grund für den Orgasm Gap sein. Woran das liegt? Bei Buben und jungen Männern ist der Penis sehr präsent und wird gern als „Prachtstück“ angesehen. Mädchen und junge Frauen wachsen hingegen nicht selten damit auf, dass ihr Genital abgewertet wird. Sie sollen „da unten“ ja nicht hingreifen und ihr Genital nicht herzeigen. „So kann die Klitoris sich aber nicht zu dem Lustzentrum entwickeln, das sie biologisch gesehen ist“, erklärt die Sexualtherapeutin.

Was tun? Sich über diese Schieflage bewusst werden, sich als Frau ohne Scham der eigenen Klitoris zuwenden und beim Sex auch die klitorale Befriedigung miteinbeziehen.

4. Orgasm Gap: Stress im Alltag als möglicher Auslöser

Für Männer ist Sex oft ein Werkzeug, um Stress abzubauen. Frauen brauchen eher eine stressfreie Zone, um überhaupt in Stimmung zu kommen. Außerdem sind sie durch Beruf, Familie oder Pflege von Angehörigen oft vielfach belastet. „In einer angespannten Stimmung ist es aber wahnsinnig schwer, sich auf die Berührungen des Gegenübers einzulassen“, erklärt die Sexualtherapeutin. Stress kann also gleich in zweierlei Hinsicht zum Orgasm Gap beitragen.

Der Tipp der Sexualtherapeutin: Versuchen Sie, sich als Paar zu zweit auf die Intimität einzustimmen. „Nehmen Sie ein heißes Bad, legen Sie entspannende Musik auf oder gehen Sie in aller Ruhe spazieren.“

5. Die Angst vor Sex-Gesprächen trägt zum Orgasm Gap bei

Über Sexualität wird oft zu wenig gesprochen. Was bereitet einem selbst Lust? Was gefällt dem Gegenüber? Was wünschen sich beide? Besonders Frauen fällt es häufig schwer, auszusprechen, was Sie beim Sex brauchen.

Auch das lässt sich ändern: Gewöhnen Sie sich in der Partnerschaft an, sich beim Kuscheln nach dem Sex auszutauschen. Diese intime Situation ist ein guter, geschützter Raum dafür. Erzählen Sie sich, was Ihnen gefallen hat, was weniger angenehm war und was Sie sich wünschen. Das mag besonders am Anfang schwerfallen. Die Sexualtherapeutin rät: „Nehmen Sie sich bewusst ein Herz und trauen Sie sich zu, das Gespräch zu beginnen. Sie können nur dazugewinnen.“ Noch ein Tipp: „Kommunizieren Sie in Ich-Botschaften – also zum Beispiel: ‚Ich wünsche mir‘ oder ‚Mir gefällt‘.

Wird der Orgasm Gap überbewertet – ist Sex auch ohne Orgasmus gelungen?

Orgasmus hin oder her – beim Sex geht es in erster Linie darum, Lust zu spüren und Intimität zu genießen. Ein Orgasmus sollte nicht das oberste Ziel sein, Stichwort Slow Sex. Je mehr man sich beim Sex auf den Orgasmus fokussiert, umso mehr Druck entsteht. Ebenso wichtig zu wissen: Bei Frauen ist das Lustgefühl auch zyklusabhängig. Die Hormone bestimmen über mehr oder weniger lustvolle Tage. Auch mit den Wechseljahren kann sich das Lustgefühl verändern.

Zudem gibt es Frauen, die sich aus einem Orgasmus nicht so viel machen. „Viele Frauen berichten mir, dass ein Orgasmus zwar schön ist, sie das Davor aber mindestens genauso genießen“, erzählt die Sexualtherapeutin. Und rät: „Sexualität ist mehr, als nur einen Orgasmus zu bekommen. Sie ist Berührung, Gefühl und Intensität. Wenn es zum Höhepunkt kommt – schön, wenn nicht, dann kann der Sex trotzdem sehr erfüllend und befriedigend sein.“