Dankbarkeit: Warum sie guttut und wie man sie lernt
Die umfangreiche Ratgeberliteratur in den Buchgeschäften und mehr als 17,2 Millionen deutschsprachige Google-Suchergebnisse belegen es: Viele Menschen verspüren ein inneres Bedürfnis nach Dankbarkeit. Kein Wunder: Dankbarkeit hat viele positive Effekte auf unsere körperliche und seelische Gesundheit. So kann es gelingen, im Alltag öfter innezuhalten und diesem großen Gefühl nachzuspüren.
Was ist Dankbarkeit?
„Danke“ ist eins der ersten Wörter, die Eltern ihren Kindern beibringen. Wir sagen es wie automatisch, ohne groß nachzudenken, auf eine erhaltene Gefälligkeit. Jeder kennt auch das starke Glücksgefühl, wenn ein langersehnter Wunsch in Erfüllung geht. Doch diese Empfindung geht oft genauso rasch, wie sie gekommen ist.
Neben dieser spontanen Art der Dankbarkeit gibt es aber noch eine grundlegendere: Sie geht über den Moment hinaus und betrifft unsere Grundhaltung zum Dasein an sich. „Wo Dankbarkeit ist, entsteht ein gelassenes Annehmen des Lebens. Wir fühlen uns geborgen, eingebunden und beheimatet. Dankbarkeit erzeugt ein andauerndes Empfinden von Glück, das auch nicht verschwindet, wenn mal etwas nicht gelingt oder die Stürme des Lebens rauer werden“, erklärt Michael von Brück. Der Theologe, Zen- und Yogameister hat sich intensiv mit dem Thema befasst (unter anderem in seinem neuen Buch „Wie wir Menschen werden“, das im Februar 2025 erscheint).
Was passiert bei Dankbarkeit im Gehirn?
Seit den 2000er-Jahren hat die Psychologie in vielen Studien herausgefunden, dass dankbare Menschen gesünder sind, weniger Stress, Ängste und Einsamkeit empfinden, mehr Sport treiben und insgesamt mehr Lebensfreude verspüren.
Neurologisch lässt sich das gut erklären: Denken wir an schöne Dinge, für die wir Dankbarkeit empfinden, aktiviert das den Hypothalamus. Diese Region im Gehirn ist für Stressmanagement, Schlaf und Stoffwechselsteuerung zuständig. Zudem wird bei Dankbarkeitsempfinden der Neurotransmitter Dopamin ausgeschüttet. Das sogenannte „Glückshormon“ löst im Gehirn einen Belohnungseffekt aus.
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Damit nicht genug: Regelmäßiges Dankbarkeitstraining bewirkt sogar dauerhafte Veränderungen im Gehirn, fand eine Studie an der University of Indiana mittels Gehirnscan heraus. Die Probandinnen und Probanden zeigten verstärkte Aktivitäten im präfrontalen Cortex, der Gehirnregion für Lernen und Entscheidungsfindung. Diese Gehirnveränderungen erhöhen die Sensibilität für zukünftige Dankbarkeitserfahrungen. Dankbarkeit zieht also noch mehr Dankbarkeit an. Zudem vermuten die Forschenden, dass dankbare Menschen auch aufmerksamer darauf achten, wie sie ihre Dankbarkeit ausdrücken. Je dankbarer wir also sind, umso sozialer verhalten wir uns auch unseren Mitmenschen gegenüber – die dadurch wiederum selbst mehr Dankbarkeit verspüren. Eine positive Aufwärtsspirale, sozusagen.
Warum fällt uns Dankbarkeit oft so schwer?
Bei all diesen positiven Auswirkungen auf unsere körperliche und seelische Gesundheit wäre es überaus praktisch, könnte man Dankbarkeit auf Rezept verschreiben. Doch so einfach ist es nicht. Schon rein evolutionär ist das menschliche Gehirn darauf programmiert, vor allem das Negative, Bedrohliche wahrzunehmen und so das Überleben zu sichern. Die warme Wohnung, der volle Kühlschrank, der liebevolle Abschiedskuss erscheinen uns selbstverständlich. Stattdessen fokussieren wir auf den verspäteten Bus, das vergessene Ladekabel und den verschütteten Kaffee.
Darüber hinaus führt uns Dankbarkeit, unsere Verletzlichkeit vor Augen. Wir sind abhängig von unseren Mitmenschen und von Einflüssen, über die wir keine Macht haben. Sich dessen bewusst zu werden, kann innere Widerstände auslösen – gerade in einer Gesellschaft, die so stark von Individualisierung geprägt ist wie die moderne westliche Welt. Wo das Denken vorherrscht, alles aus sich selbst heraus leisten zu müssen, verlieren Anerkennung und Wertschätzung an Bedeutung.
Auch die übermäßige Beschäftigung mit virtuellen und digitalen Medien geht zulasten der Emotionalität und Verbundenheit. Gefühle zulassen und sich Mitmenschen öffnen zu können, ist oft gar nicht so einfach. „Das ist ein Problem, denn Dankbarkeit bedeutet letztlich Beziehungsfähigkeit und berührt uns als Emotion tief im Inneren“, sagt Michaela Legl-Bruckdorf. Die Psychotherapeutin arbeitet mit Methoden des Psychodramas und der Positiven Psychologie.
Wie kann man Dankbarkeit lernen?
Achtsamkeit
Die Voraussetzungen für Dankbarkeit könnten also besser sein. Aber es gibt Hoffnung: „Auch wenn es dem einen schwerer, dem anderen leichter fällt: Dankbarkeit können wir erlernen“, ermutigt der Theologe von Brück. Für ihn beginnt die Reise zur Dankbarkeit mit dem Staunen. Mit der Bereitschaft, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und sich von den ganz kleinen Dingen überraschen und spontane Freude aufkommen zu lassen. Um es kurz zu sagen: mit mehr Achtsamkeit.
Der nächste Schritt ist die Wiederholung solcher beglückenden Ereignisse: „Sie muss nicht physisch sein, sie kann sich auch mental vollziehen. Wenn wir die Erinnerung wachrufen, jedes Detail noch einmal erleben, dann wächst die Dankbarkeit“, beschreibt von Brück. „Dies ist das Prinzip von Visualisierungen, die wir lernen und im Alltag anwenden können.“
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Die Erinnerung können wir uns auch zunutze machen, wenn wir auf weniger Erfreuliches zurückblicken und uns mit Vergangenem versöhnen wollen: „Bei unserer Erinnerung mischt vieles aus der Gegenwart mit. Das bedeutet, wir können Erinnern gestalten“, erklärt von Brück. „Aber das kommt nicht von allein, es ist Arbeit.“
Die wichtigste Lektion in Sachen Dankbarkeit lautet: Sie ist nichts, das ein für alle Mal erworben wird. „Wenn ich meinen Geist, meine Muskeln nicht trainiere, werden sie schwach. So ist es auch mit der Dankbarkeit. Wenn sie nicht verkümmern soll, muss sie trainiert werden“, so der Theologe.
Religion und Spiritualität
Eine wertvolle Quelle für Dankbarkeit kann Religion sein. Studien zeigen, dass gläubige Menschen dankbarer sind als ihre atheistischen Zeitgenossen. Kein Wunder: Dankbarkeitsrituale spielen in allen Religionen eine zentrale Rolle. Wer regelmäßig betet, hat dazu schlichtweg öfter die Gelegenheit. Darüber hinaus fördert Religiosität eine Verbundenheit mit etwas, das größer ist als wir selbst. „Sie ermöglicht sogenannte ‚peak experiences‘: Bewusstseinszustände der großen Offenheit und Empfänglichkeit, wie wir sie auch in der Natur, in der Erotik und in der Kunst erleben“, beschreibt Michael von Brück. „Plötzlich tut sich ein Horizont auf: Das Leben ist mehr als meine alltägliche Mühsal. Wir fühlen uns tief verbunden mit der Natur, mit unserer Mitwelt.“ Solche Gipfelmomente können sinngebend wirken und die Entwicklung tiefer Dankbarkeit anstoßen, die auch in schweren Momenten nicht erschüttert wird.
Wer sich keinem bestimmten Glauben zugehörig fühlt, kann durch Spiritualität offener werden. „Ich verstehe darunter die aktive Beschäftigung des Bewusstseins mit sich selbst. In dem Maße, in dem unser Bewusstsein die eigenen Potenziale erschließt, wächst Dankbarkeit für diese enormen Möglichkeiten, die wir im normalen Alltag gar nicht wahrnehmen“, so von Brück. Meditation, Yoga und Atemübungen können dazu beitragen.
Positive Psychologie
Auch die Positive Psychologie hat viele Dankbarkeitsübungen entwickelt. Die Psychotherapeutin Michaela Legl-Bruckdorf arbeitet gerne mit dem Dankbarkeitstagebuch bzw. der Dankbarkeitsliste: „Solche Achtsamkeitsübungen helfen, schöne Dinge wahrzunehmen und den Fokus auf Kleinigkeiten zu richten.“ Oder Dankbarkeitsbriefe: Für einen positiven Effekt müssen sie nicht einmal abgeschickt werden, wie eine Studie herausfand.
Doch die Antwort auf die Frage „Wofür kann man dankbar sein?“ fällt nicht immer leicht. Die Psychotherapeutin empfiehlt einen Realitätscheck, wenn man in einem negativen Gedankensog gefangen ist: „Fragen Sie sich: ‚Wird mich das Problem noch mit 80 Jahren beschäftigen?‘ Gerade Humor und Lachen bringen Distanz zu Ärgernissen.“ Bei schwerwiegenden psychischen Erkrankungen sollten Dankbarkeitsübungen aber professionell begleitet werden, legt die berühmte Glücksforscherin Sonja Lyubomirsky von der University of California, Riverside, nahe. Denn Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen: Krampfhaft nach etwas Positivem fürs Dankbarkeitstagebuch zu suchen, kann unter Druck setzen. Ist man auf viel Unterstützung angewiesen, können statt Dankbarkeit für die Hilfe sogar Schuldgefühle dem eigenen Umfeld gegenüber entstehen.
Die Psychotherapeutin Michaela Legl-Bruckdorf empfiehlt zudem eine gewisse Selbstfürsorge: „Gute Ernährung, ausreichend Erholung und Sport – wer auf sich achtet, dem fällt Dankbarkeit leichter.“ Viele ihrer Klientinnen und Klienten berichten, dass der Aufenthalt in der Natur und der Umgang mit Tieren sie dankbarer werden lassen. Oder die Begegnung mit jemandem, dem das Schicksal eine schwere Last aufgebürdet hat.
Wie kann man in Krisen Dankbarkeit empfinden?
Wenn Menschen an Schicksalsschlägen nicht verzweifeln, sondern gestärkt daraus hervorgehen, spricht die Forschung von posttraumatischem Wachstum. Dankbarkeit spielt neben Resilienz dabei eine wesentliche Rolle: „Sie bietet Schutz vor Traumafolgen und ist ein Bewältigungsmechanismus zugleich. Aber sie ist kein vorrangiges Therapieziel“, sagt die Psychotherapeutin Michaela Legl-Bruckdorf. Die ersten Schritte seien Stabilisierung und eine gewisse Psychoedukation, um darüber aufzuklären, was bei einer Traumatisierung überhaupt passiert.
„Dann geht es darum, dass die Klientinnen und Klienten Selbstmitgefühl entwickeln. Da sind wir noch weit entfernt vom Gefühl der Dankbarkeit“, so Legl-Bruckdorf. Schmerz, Wut und Enttäuschung zuzulassen ist notwendig für die Bewältigung, das ist aus der Trauerarbeit bekannt. Wichtig sei auch, zu differenzieren: „Niemand wird sagen: ‚Ich bin dankbar für die Erfahrung des Traumas an sich.‘ Aber ich kann dankbar sein für das Gute, das daraus erwachsen ist. Für den Rückhalt meiner Familie. Oder dafür, dass ich die Stärke entwickelt habe, das alles zu überleben“, schildert die Psychotherapeutin. Den Fokus auf diese inneren und äußeren Ressourcen zu stärken, sei die Aufgabe der Psychotherapie.
So kann behutsam und langsam damit begonnen werden, das Erlebte in die eigene Biografie zu integrieren und in der persönlichen Entwicklung einen Sinn zu finden. Die Psychotherapeutin verweist auf die japanische Keramikscherbenkunst Kintsugi: „Auch wenn etwas zerbrochen ist, kann etwas Schönes entstehen.“
Im Grunde ist diese Aufarbeitung, die Suche nach dem Sinn nie abgeschlossen. „Dankbarkeit ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch Erkenntnis. Bei allen Dingen, die uns berühren, verändern und eine Prägung hinterlassen, kommen Erkenntnis und Gefühl zusammen“, erklärt der Theologe Michael von Brück. „Doch Erkenntnis kommt nie zu einem Ende – denn alle möglichen Zusammenhänge und Gründe für etwas, das so ist, wie es ist, können nie erschöpfend ausgelotet werden.“
Dankbarkeit zu kultivieren ist somit eine Lebensaufgabe, die nicht immer leichtfällt und uns vor viele Herausforderungen stellt. Aber es lohnt sich, versprochen.