Interview mit Marta Messa, Geschäftsführerin der „Slow Food“ Bewegung
„Genuss und Gerechtigkeit gehören zusammen“. Als Geschäftsführerin der „Slow Food“-Bewegung setzt sich Marta Messa für eine bewusste Esskultur ein. Was dafür weltweit notwendig ist, erklärt sie hier.
Inhaltsverzeichnis
- „Slow Food“: für das Recht auf Genuss
- Über Marta Messa
- Wie sind Sie ausgerechnet zu „Slow Food“ und dem Engagement für wertiges Essen gekommen?
- „Slow-Food“-Gründer Carlo Petrini ging es zuerst vor allem um Genuss. Ist heute Gerechtigkeit wichtiger?
- Was geschieht bei „Terra Madre“?
- Aber können Sie so tatsächlich etwas verändern?
- Sie haben lange für dieses Projekt gearbeitet, worum geht es da?
- Seit zehn Jahren gibt es das „Slow Food“-Büro in Brüssel. Wie erfolgreich ist Ihre Arbeit dort?
- Kann Ihre Organisation den Mächtigen denn dauerhaft etwas entgegensetzen?
- Warum sind Sie 2022 nicht Nachfolgerin von Carlo Petrini geworden?
- Was ist Ihre persönliche Slow-Food-Strategie?
- Sie essen noch Fleisch?
- Was ist Ihr Lieblingsgericht?
- So können wir zur Bewegung beitragen
„Slow Food“: für das Recht auf Genuss
1986 gründete der italienische Publizist Carlo Petrini in Bra (Piemont) die Bewegung „Arcigola“ – ein Kunstwort, das „Arci“ für die linke Kultur- und Freizeitbewegung Italiens mit „gola“ für Geschmack vereint. Das Ziel: den Reichtum der regionalen Küche zu erhalten und die heimische Produktion zu schützen. Im selben Jahr wurde eine McDonald’s-Filiale im historischen Zentrum Roms eröffnet. Gegen den Fast-Food-Siegeszug protestierte Petrini, indem er ein öffentliches Essen mit traditionellen Speisen an der Spanischen Treppe veranstaltete. 1989 trafen sich Anhänger aus aller Welt in Paris, sie machten aus „Arcigola“ die internationale NGO „Slow Food“ mit der Weinbergschnecke als Logo. Gefordert wurden genussvolle Lebensmittel für alle als Menschenrecht. 2006 definierte Petrini die Kriterien der „Neuen Gastronomie“: buono, pulito e giusto – gut, sauber und fair. Heute hat die Bewegung über 100.000 Mitglieder in rund 160 Ländern. Seit mehr als 20 Jahren ist „Slow Food“ auch in Österreich vertreten.
Über Marta Messa
Dass man mit gutem Essen die Welt retten kann, davon ist Marta Messa überzeugt. Die 40-jährige Italienerin ist seit 2022 Generalsekretärin von „Slow Food International“. Die Bewegung entstand 1986 im Piemont – mit dem Ziel, traditionelle, regionale Küche zu erhalten und saubere, faire Lebensmittelerzeugung zu unterstützen. Heute ist die Organisation mit dem Schneckenlogo in über 160 Ländern aktiv. Marta Messa engagiert sich in Brüssel bei der Europäischen Union für Nachhaltigkeit, zum Beispiel gegen Pestizide und Gentechnik in Nahrungsmitteln. Und für guten Geschmack. Im Interview schildert sie, was das heutzutage bedeutet.
Wie sind Sie ausgerechnet zu „Slow Food“ und dem Engagement für wertiges Essen gekommen?
Durch Zufall: Mein Elternhaus liegt sechs Kilometer entfernt von Bra im Piemont, wo der „Slow Food“-Hauptsitz ist. Ich suchte eine NGO möglichst in der Nähe – und fand diese Organisation. Bis dahin wusste ich nicht viel über ihre Ziele. Ich fand es aber sofort superinteressant und sehr sinnvoll, Essen in den Mittelpunkt zu stellen, denn das verbindet uns alle. Aber leider haben nicht alle Menschen Zugang zu gutem Essen. „Slow Food“ wurde vor fast 40 Jahren in Italien gegründet und viele Leute denken immer noch, es gehe vor allem um italienische Spezialitäten. Wir engagieren uns aber für biologische, kulturelle Vielfalt und faire Bedingungen auf der ganzen Welt, für den Respekt vor Menschen, Traditionen, Natur und Tieren.
„Slow-Food“-Gründer Carlo Petrini ging es zuerst vor allem um Genuss. Ist heute Gerechtigkeit wichtiger?
Genuss, hängt mit Gerechtigkeit eng zusammen. Zur Esskultur gehört eine Vielfalt von Geschmäckern und Gerüchen verschiedenster Lebensmittel. Wenn Sie heute in Europa in einen beliebigen Supermarkt gehen, dann finden Sie, egal in welchem Land, vielleicht vier Apfelsorten. Dabei gab es einmal viel, viel mehr. Und das ist kein europäisches Problem, überall auf der Erde verschwinden gute Lebensmittel. Das erfuhr ich schon bei meinem ersten Job 2010, als ich die Aufgabe übernahm, die afrikanische Delegation zum „Terra Madre Salone del Gusto“ einzuladen und ihre Reise zu organisieren.
Was geschieht bei „Terra Madre“?
Alle zwei Jahre findet ein Treffen unseres globalen „Slow Food“-Netzwerks statt. Wir haben weltweit etwa 3.000 Aktivistinnen und Aktivisten, die sich bei „Terra Madre“ über die Zukunft von Essen und Politik austauschen. Wir möchten, dass alle teilnehmen können, auch die, die selbst nicht genug Geld haben, um nach Italien zu reisen. Bäuerinnen und Bauern, Köchinnen und Köche, Lebensmittelhandwerkerinnen und -handwerker aus der ganzen Welt sollen ihre Kenntnisse einbringen.
Kann denn ein afrikanischer Bauer einer Landwirtin aus der Alpenregion nützliche Tipps geben?
Ja, denn sie haben viele Gemeinsamkeiten: Sie stemmen sich gegen die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion und pflegen nachhaltige, nützliche Traditionen. Auch kleine handwerkliche Betriebe wie Bäckereien oder Metzgereien haben überall zu kämpfen. Kürzlich habe ich eine belgische Käserin kennengelernt, die durch uns seit Jahren eine enge Verbindung mit einem Käsehersteller in Brasilien hat. Ihre Erfahrungen sind sehr ähnlich und miteinander entwickeln sie neue Ideen.
Aber können Sie so tatsächlich etwas verändern?
„Slow Food“ empowert Menschen aus dem Nahrungsmittel-Handwerk. Ein gutes Beispiel ist Claudia Albertina Ruiz Sántiz, eine indigene Köchin aus Tzotzil im südmexikanischen Chiapas. Sie kocht traditionell mit regionalen, ökologischen Zutaten und war kurz davor aufzugeben, als sie zu uns kam und sich der „Chef Alliance“ anschloss – unserem internationalen Netzwerk aus Köchinnen und Köchen, die dieselben Werte teilen und sich austauschen und unterstützen. Damit wurde Claudia öffentlich bekannt, sie bekam eine TV-Kochshow und ist heute ein Star. Wir machen auch die Politik aufmerksam, etwa mit „Food Gardens in Africa“.
Sie haben lange für dieses Projekt gearbeitet, worum geht es da?
Wir haben in vielen Ländern Afrikas ökologische Obst- und Gemüsegärten angelegt, etwa in Schulen oder für Dorfgemeinschaften. In Afrika gab es früher viel altes Wissen über Anbau und Nahrungsmittel-Herstellung. Mit der sogenannten Grünen Revolution wurden Mitte des vergangenen Jahrhunderts dann scheinbar moderne landwirtschaftliche Technologien in Entwicklungsländer gebracht. Westliche Experten sagten: Ihr braucht dieses Saatgut, diese Pestizide oder diese Düngemittel. Herkömmliche Methoden interessierten nicht mehr. Mit unserem Programm wollen wir zeigen, dass das falsch ist. Denn die traditionellen Kenntnisse der Bauern sind wichtig und wir helfen ihnen, diese Diskussion in die Politik zu tragen, damit sie Unterstützung bekommen. Das Programm ist sehr erfolgreich.
Seit zehn Jahren gibt es das „Slow Food“-Büro in Brüssel. Wie erfolgreich ist Ihre Arbeit dort?
Ich finde, wir haben auch in der EU viel erreicht. So konnten wir zum Beispiel ein Gesetz stoppen, das das EU-Gentechnikrecht aufgeweicht hätte. Genetisch veränderte Organismen, sogenannte GVO, sind eine Bedrohung für die Umwelt, die biologische Vielfalt, unsere freie Wahl der Nahrungsmittel und die Existenz kleiner bäuerlicher Betriebe. Es gibt eine mächtige Lobby für GVO.
Kann Ihre Organisation den Mächtigen denn dauerhaft etwas entgegensetzen?
Wir sind relativ klein und arbeiten in Brüssel anders als viele größere Organisationen, die auch tolle Arbeit für ähnliche Ziele machen. Als Grassroots-Bewegung bringen wir die Leute von unten in die EU-Politik, Menschen, die Tag für Tag mit Lebensmittelherstellung, Gastronomie und Landwirtschaft zu tun haben. Sie erklären selbst, welche Schwierigkeiten sie haben und welche Lösungen sie sehen. Als die Europäische Kommission in der letzten Legislaturperiode über Pestizide beriet, haben wir ein Treffen mit Menschen aus unserem Netzwerk organisiert. Darunter etwa ein Bauer, der von konventioneller auf ökologische Produktion umgestellt hat. Auch zum Thema Tierwohl konnten wir Landwirtinnen und Landwirten Gehör verschaffen. Obwohl weltweit vor allem Frauen an den Kochtöpfen stehen, sind sie bei „Slow Food“ in Führungspositionen unterrepräsentiert.
Warum sind Sie 2022 nicht Nachfolgerin von Carlo Petrini geworden?
Wir arbeiten an der Frauenquote und sind in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden. Es gibt in unterschiedlichen Ländern immer mehr Frauen an der Spitze. Unser internationaler Präsident Edward Mukiibi stammt aus einer ugandischen Bauernfamilie und ist ein akademisch ausgezeichneter Lebensmittel- und Agrarwissenschaftler. Er arbeitet noch jeden Morgen in der Landwirtschaft seiner Familie mit. Er ist der Richtige.
Was ist Ihre persönliche Slow-Food-Strategie?
Ich kaufe ökologisch und regional, möglichst von kleinen Produzenten, die ich unterstützen möchte. Vor allem bei tierischen Produkten wie Fleisch, Milch oder Käse achte ich darauf, von wem sie kommen.
Sie essen noch Fleisch?
Ja, aber wenig und bewusst. Fleisch gehört zur kulturellen und gastronomischen Tradition, in Europa verzehren wir nur zu viel davon. Meine Großeltern haben Fleisch als etwas ganz Besonderes nur einmal pro Woche gegessen. Für die Agrikultur sind Tiere wichtig, auch sie tragen zur Vielfalt auf unserem Planeten bei. Es sind schon viele Nutztierarten ausgestorben und einige vom Aussterben bedroht.
Lesetipp: Sie wollen weniger oder kein Fleisch essen? Erfahren Sie, ob vegan gesund ist und worauf es bei der veganen Ernährung ankommt.
Was ist Ihr Lieblingsgericht?
Gnocchi al Raschera, also Gnocchi mit einer cremigen Käsesoße. Meine Oma hat sie immer für uns zubereitet. Ich liebe dieses traditionsreiche Gericht aus dem Piemont.
So können wir zur Bewegung beitragen
„Wir sollten unser Essen mehr wertschätzen“, sagt Marta Messa. Denn billige Nahrungsmittel im Discounter zu kaufen, sei nur auf den ersten Blick günstig, die Folgekosten für die Gesellschaft durch Umweltverschmutzung, Artensterben und Krankheiten wie Diabetes oder Adipositas seien für alle hoch. Regional, saisonal, biologisch und von kleinen Betrieben einkaufen, die man möglichst selbst kennt oder über die man sich informiert hat – so lautet die Formel. „Global denken, lokal essen“, fasst es „Slow Food“-Österreich zusammen, das regelmäßig Produzenten und Geschäfte im ganzen Land vorstellt. Und vor allem gilt: mit Genuss köstlich essen. Etwa in einem Restaurant der „Slow Food“-Liste, von denen so einige auch mit Sternen oder Hauben ausgezeichnet sind. Infos: slow-food.at.